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Re: Schulbildung WAS: NF-Umschalter



Hallo Gerd,


-----Urspruengliche Nachricht-----
Von: Gerd Heimann <GHeimann_bEi_t-online.de>
An: <fblinu_bEi_mvmpc100.ciw.uni-karlsruhe.de>
Gesendet: Sonntag, 19. September 1999 17:16
Betreff: Re: Schulbildung WAS: NF-Umschalter

ich hab mir fuer die Antwort ein bisschen Zeit gelassen, da mir das Thema zu
wichtig scheint, um das mal "so nach der Arbeit" schnell in 5 Minuten
runterzurattern.

> Die Erwartung an Schule und was sie vermitteln soll, steigt staendig.
> Immer neue Bereiche werden aufgenommen, ohne dass alte abgesetzt werden.
Sicher wuerde jeder Versuch, Inhalte zu streichen, von wilden Protesten von
Interessengruppen begleitet. Wobei man bei der Vermittlung von
Grundfertigkeiten wohl auch nichts streichen kann. Ob "heimatkunde" oder
"Religion" noch in den Schulunterricht des 21. Jahrhunderts passen, ist fuer
mich persoenlich schon keine Frage mehr, sondern mit "nein" beantwortet. Aber
andere werden anders antworten.

> Dies kann auf die Dauer natuerlich nicht funktionieren. Als z.B. die
> zeitintensive Computerarbeit eingefuehrt wurde, haette auch bestimmt
> werden muessen, was eingeschraenkt werden soll.

wird ja ueberall woanders auch nicht: frueher hab ich im Buero all meine Briefe
auf Platte diktiert und in den Schreibdienst gegeben. heut wird erwartet,
dass ich meine Post selbst schreibe. Vorteil fuer mich: ich hab es selbst in
der Hand, wann ich fertig bin und der Brief rauskann. Vorteil fuer den
Kunden: es werden ein paar Tage Bearbeitungszeit gespart. Nachteil: von mir
wird mehr Arbeitslleistung in der gleichen Zeit als noch vor fuenf Jahren
erwartet. Weiterer Nachteil: im Schreibdienst werden keine Kraefte mehr
eingestellt und er stirbt langsam aus.

Aber gegen die Arbeitsverdichtugn kann ich mich nicht wehren - und da werden
dann wohl auch Schueler und Lehrer nicht davon verschont bleiben. Denn davon
bleibt kaum ein Beruf verschont.

> Angesichts der Menge angesammelten Wissens kann Schule nur eine
> Grundbildung realisieren und im guenstigsten Falle die Faehigkeit des
> Weiterlernens vermitteln.

da stimmen wir voll ueberein. Dennoch bedeutet das, dass heute mehr
Fertigkeiten beherrscht und vermittelt werden muessen als noch vor 20 Jahren,
als ich zur Schule ging: denn die Methoden der Wissensvermittlung
und -erarbeitung haben sich gewandelt und werden sich weiter wandeln. Und
sie sind leider nicht auf blinde Menschen abgestimmt. Damit werden speziell
die Forderungen an Blinde, was ihre Aufnahmefaehigkeit,
Abstraktionsfaehigkeit, aber auch ihre Leistungsbereitschaft angeht, weiter
steigen.

> Was nun zu dieser Grundbildung gehoeren soll, wird von Privatpersonen und
> Interessengruppen sehr unterschiedlich gesehen. Da gibt es nur

Da wir ja nicht fuer die Schule, sondern fuer das Leben lernen, sollten hier
die Interessengruppen  verstaerkt gehoert werden, die dereinst den blinden
Schuelern Arbeit geben und die die (Informations-)Gesellschaft von heut und
morgen praegen. Dazu werden sicher nicht die Leute gehoeren, die sich fuer
Heimatkunde, Religion oder Tanzgymnastik als Unterrichtsstunden einsetzen.

> Nun zu deinen Vorwuerfen gegen die Blindenschule Hamburg:

sie sind nicht gegen die Schule in Hamburg allein gerichtet und auch nicht
gegen Personen, die dort arbeiten, im speziellen: da hast Du wohl was falsch
in den Hals bekommen. dass ich die Hamburger Schule als Beispiel anfuehrte
liegt daran, dass ich mit Schuelern von dieser Schule Kontakt habe. Ich wollte
das gehoerte einfach moeglichst richtig wieder geben.

> Jahrgangsuebergreifende Klassen werden gebildet, wenn eine Jahrgangsstufe
> die vorgegebene Klassenfrequenz erheblich unterschreitet. Die
> Lehrerstundenzuweisung orientiert sich an der Klassenfrequenz. Befinden
> sich in  einem Jahrgang beispielsweise nur fuenf SchuelerInnen, steht
> dieser Klasse auch nur die Haelfte der Lehrerstunden zu. Die Klasse wuerde
> Vorgabe der Behoerde.

dann ist es Aufgabe der Schule, der Behindertenverbaende und
Elternvertretungen, hier "laut" zu werden: diese Vorgaben muessen dann
geaendert werden. Sicher habt Iihr als Lehrer da was getan - aber nach aussen
ist davon nichts gedrungen. Vielleicht waere hier mal "Oeffentlichkeit"
angesagt: Fernsehen, Zeitungen statt der stillen Verhandlungen mit
Schulbehoerden.

> Du beklagst das Lernpensum der Hamburger Blindenschule im Vergleich zur
> Heinrich-Hertz-Schule. Ich bezweifele, dass man so zwei Schulen
> miteinander vergleichen kann. Das wuerde ja voraussetzen, dass
> beispielsweise jede fuenfte Klasse an der HH den gleichen Leistungsstand
> haette. Das Lerntempo ist von verschiedenen Faktoren abhaengig, z.B. vom
> Fach, der Lehrkraft usw. Der wichtigste Faktor ist die Klasse selbst.

nun habe ich gleiches von mehreren Schuelern aus verschiedenen Jahrgaengen
gehoert. Also scheint es doch mehr Schulsymptomatisch zu sein als
Klassenbezogen.

> Deine pauschale Kritik an der Blindenschule Hamburg, die auf Hoeren/Sagen
> beruht, halte ich fuer unangemessen. Sie diskriminiert letztlich die dort
> arbeitenden KollegInnen.

worauf anders als "Hoerensagen" sollte sie denn bei einem, der nicht mehr
aktiv zur Schule geht, beruhen? Die authentischste Quelle, die mir zur
Verfuegung steht, sind doch wohl Schueler, die dort den Unterricht besucht
haben, oder nicht? Was soll denn naeher dran sein an der Realitaet als deren
Erfahrungen? Das ist kein "Hoerensagen", das sind Erfahrungen Betroffener"
aus erster Hand. Dichter dran waere hoechstens eine "Wallraffiade"
meinerseits, aber dafuer bin ich zu bekannt ...

Ausserdem hab ich den Leistungsstand von Schuelern dieser Schule - wenn auch
nur in einem kleinen Bereich dessen, was an Schulen an Grundkenntnissen
vermittelt wird - selbst erleben duerfen: in den Amateurfunkkursen. Da ging
es nicht nur um Grundkenntnisse der Elektrizitaetslehre - was an
Sehenden-Schulen auch heute noch im Naturlehre-Unterricht gebracht wird, und
das nicht erst in der Oberstufe -, sondern auch Grundkenntnisse in der
Mathematik, z.B. bei der Arbeit mit einfachen Formeln bis hin zu
Rechenoperationen mit Quadraten und Wurzeln. Im gleichen Kurs waren auch
sehende der gleichen Altersstufe. Da waren Unterschiede.

Ob das den Lehrrern dort zurechenbar ist oder nicht, hab ich mit keinem Ton
gesagt. Den Schuh muss sich also keiner anziehn. Ich habe von Erfahrungen,
die andere gemacht haben und von eigenen berichtet. Damit hab ich niemanden
diskriminiert und auch nicht irgendwen ungerechtfertigt angegriffen.

> Die Behoerde, die Gesellschaft und die Elternschaft stellen immer hoehere
> Anforderungen an die Schule. Die soll reparieren, was an anderer Stelle
> schief gelaufen ist. Gleichzeitig wird die Lehrerarbeitszeit stetig
> erhoeht.
> der Handelsschule an unbezahlten Ueberstunden geleistet wird. Es ist
> eigentlich kaum noch zu verstehen, dass so viele KollegInnen zu
> freiwilliger zusaetzlicher Arbeit bereit sind.

wie gesagt, von der Erscheinung der Arbeitsverdichtung sind nicht nur Lehrer
betroffen. Dass in allen Berufsgruppen gern darueber geklagt wird, ist nichts
neues ... um nicht falsch verstanden zu werden: ich will hier nicht deam
alten Vorurteil huldigen, Beamte oder Lehrer im Besonderen "taeten nix". Aber
mit den gleichen Mehranforderungen an den persoenlichen Arbeitseinsatz haben
fast alle Berufsgruppen zu kaempfen. Der Hinweis auf die Ueberstunden usw.
kann also nicht entlasten.
Sicher, Schule und Lehrer koennen nicht alles leisten. Hier sind auch DBV,
Blindenvereine und die Eltern und Schueler selbst gefordert. Zur Not auch
ueber Oeffentlichkeit etwas zu erreichen - wenn es auch manche nicht gern
hoeren: wer heute nicht laut genug klagt, und sei es in bestimmten Zeitungen
oder Fernsehsendungen, wird leicht ueberhoert.  Nur sollte der Zweck, der ja
kein schlechter ist, vielleicht auch solche Mittel heiligen.

Was mir aufgestossen ist, war z.B. die Aussage eines Kursteilenhmers, dass er
sich durch die schwachen Schueler in seiner Klasse "ausgebremst" fuehle, da
der Unterrichtsfortgang sich an den langsamsten orientiere. Warum sollen
nicht auch blinde Schueler merken, dass es gewisse Leistungsanforderungen
gibt, die fuer alle gelten, und dass man eben auch mal "strampeln" muss, um sie
zu erreichen oder gar eine "Ehrenrunde" einlegen? Muss wirklich immer auf die
langsamsten Ruecksicht genommen werden - auf Kosten derer, die mehr leisten
koennten? Vielleicht waeren dann die weiter oben beklagten Luecken nicht so
gross. Auch auf einer Schule, die von Behinderten besucht wird, muss es den
Mut geben, jemandem zu sagen: "Du schaffst es in diesem Jahr nicht" oder
auch: "Fuer Dich ist eine lernbehindertenklasse der richtigere Ort". Gerade
Ein blinder oder sehbehinderter Schueler, der genuegend Leistungsfaehigkeit auf
intellektuellem Sektor hat, hat auch ein Recht auf optimale Foerderung und
sollte nicht durch falsche Ruecksichtnahmen ausgebremst werden.

Gruss Andreas