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Re: Keine Lanze fuer ...



Hallo, Eberhard, Waltraud und alle,
Eberhard, Du fuehrst am 09.08. aus:
> Stellt Euch doch mal vor, alle Blinden, die die Brailleschrift
> benutzen, korrespondieren ab sofort mit Behoerden und Firmen nur noch in
> dieser Schrift. Schliesslich wird sie seit ueber hundert Jahren in
> Deutschland an offiziell anerkannten Blindenschulen unterrichtet, um den
> Blinden den heute unverzichtbaren Zugang zu den grundlegenden
> Kulturtechniken Lesen und Schreiben zu ermoeglichen. Warum leistet sich
> die Gesellschaft diesen Luxus, wenn die Betroffenen mit dem Erlernten
> hinterher nur sehr eingeschraenkt umgehen duerfen. Oder anders gefragt:
> Warum muessen die Behinderten in so hohem Masse Ruecksicht auf die armen
> Nichtbehinderten nehmen?

Die Antwort kennen wir alle: Behinderte sind in der Minderzahl, und von
Minderheiten erwartet man ein hoeheres Mass an Anpassung der Mehrheit
gegenueber.  Boes formuliert:  Wenn die sehende Mehrheit uns die "Gnade
der eigenen Schrift gewaehrt", so haben wir uns im uebrigen zu fuegen.

Dieser Meinung bin ich nicht.  Doch sollten wir genau abwaegen, wo wir
uns anpassen, wo provozieren, und wo wir keineswegs nachgeben sollten.
Mein Credo - das damit das Credo meines Kampfes als Behinderter darstellt -
lautet wie folgt:

1. Wir sollten uns freiwillig anpassen, wenn die Anpassung mit aehnlich
   viel Zeit und hoechstens dem doppelten Arbeitsaufwand verbunden ist
   wie fuer Nichtbehinderte.  Wir muessen uns anpassen, wenn keine
   technischen Moeglichkeiten oder behinderungsspezifischen Techniken
   zur Verfuegung stehen, oder wenn die Nichtanpassung Folgen (z.B.
   Arbeitslosigkeit) zeitigen wuerde, die wier verhindern muessen.
2. Provokation kommt nur als politisches Mittel in Betracht.  Es muss
   verhindert werden, dass unter den Provozierten der Eindruck entsteht,
   wir seien zu einer entsprechenden Anpassungsleistung nicht befaehigt.
3. Keinesfalls nachzugeben ist im Kampf um unser Ziel, als Menschen mit
   ihrer Besonderheit akzeptiert zu werden (Behindertenemanzipation).

Aus diesem Credo entwiclelte ich auch die Idee vom "Kuhhandel" beim
Blindengeld: seine Reduktion sollen wir in jenem Masse zulassen, in dem
unsere Lebensqualitaet durch andere Massnahmen aufgewertet wird.
Andreas, der Du mich "ruegtest", einmal muss ich es loswerden:
Wie oft fuehle ich mich vom Neid der Sehenden bedraengt.  "Dir geht's
doch gut, Du musst ja bei gleicher Qualifikation eingestellt werden" -
"Hast Du's gut: Mit Deinen Maeusen wuerde ich nie wiedr arbeiten."
So haben tatsaechlich Leute zu mir gesagt.  Manchmal verfluche ich das
leidige Blindengeld - natuerlich weiss ich, dass es ohne dieses
mittelfristig nicht geht, und ich habe auch nicht ernsthaft vor, es
kurzfristig abzuschaffen.  Manchmal freilich traeume ich davon, wie
schoen es dochh waere, wenn ich - wie die Behinderten in den USA, wo es
kaum Gelder fuer Behinderte gibt, so dass jeder fuer sein Leben selbst
aufkommen muss - stolz bekennen koennte: "I do it all on my own."

Herzliche Gruesse aus Magdeburg                              Arne Harder
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Dr. Arne Harder, Breiter Weg 256, D-39104 Magdeburg.
Tel. 0049-391-5411241.  E-Mail: harder_bEi_medizin.uni-magdeburg.de
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