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Re: Skandalöse Entscheidung!



Sehr geehrte Frau Weis,

ich habe Ihre Mail erhalten. Ich halte Ihre Antwort auf meinen Brief fast
fuer ebenso skandaloes wie die Entscheidung der ARD, den Film "Jenseits der
Stille" heute Abend nicht in seiner Audiodeskriptionsfassung zu senden.
Leider liefert Ihr Brief in mehreren Punkten den Beweis dafuer, dass Sie
Standard-Antworten verschicken, so dass ich leider nicht einmal sicher sein
kann, dass mein Brief gelesen, geschweige denn ernsthaft bearbeitet wird.
Unter "ernsthaft bearbeiten" verstehe ich, dass man einen Text liest,
versucht, die darin vorgetragenen Argumente zu verstehen und dann
entsprechend darauf zu antworten.

Mir ist mindestens ein Fall bekannt, in dem ein anderer Mensch, der sich
ueber die Entscheidung der ARD beschwert hat, woertlich den gleichen Brief
erhalten hat wie ich. Also - wie ich befuerchtet hatte - ein Standardbrief
als Reaktion auf unsere Beschwerden!

In meinem Brief hatte ich ausdruecklich geschrieben, dass man mir NICHT mit
der Phrase kommen moechte, dass man um mein Verstaendnis bittet. Lesen Sie mal
Ihren Brief. Sollte dieser Satz trotzdem zu finden sein? Wenn ja, dann waere
mir das an Ihrer Stelle hoechst peinlich - zumindest wenn ich meine Arbeit
mit persoenlichem Engagement machen wuerde.

Ich bin nicht in der Lage, zu erkennen, wo hier der Kompromiss liegen soll:
Sie stehen vor der Wahl, den Film so zu senden, dass sehende Fernsehzuschauer
auf den Stereoeffekt verzichten muessen, dafuer blinde aber den Film so gut
wie moeglich verfolgen koennen, oder dass Sehende den vollen Genuss und Blinde
Nichts haben. Ihr "Kompromiss" besteht nun darin, die zweite Loesung
durchzufuehren. Bei einem Kompromiss kommt man beiden Seiten entgegen.
Andernfalls ist es eine Niederlage fuer eine der beiden Interessengruppen.
Das als Kompromiss verkaufen zu wollen, zeugt davon, dass man glaubt,
enttaeuschte Zuschauer bzw. Zuhoerer mit schoenen Worten besaenftigen zu koennen.
Ich bin nicht bereit, mich auf diese Weise veralbern zu lassen.

Gleiches gilt fuer das Argument, dass man allen Gruppen gerecht werden muesse.
Wie wird man allen gerecht, wenn man in der Prime Time immer die Interessen
der Mehrheit vertritt? Mein Demokratieverstaendnis ist ein anderes.

Vielleicht werden Sie jetzt damit argumentieren, der Kompromiss laege darin,
dass der Bayerische Rundfunk die Hoerfilmfassung irgendwann ausstrahlen wird.
Auch wenn Ihre Reaktion auf meinen ersten Brief mir wenig Hoffnung gibt, dass
Sie fuer Argumente zugaenglich sind, will ich doch genauer darauf eingehen:

1. Vor kurzem wurde der Film "Die Blechtrommel" vom Bayerischen Fernsehen in
seiner Audiodeskriptionsfassung gezeigt. Es gab eine Menge Proteste von
Fernsehzuschauern, die den BR via Satellit sehen und nicht wussten, wie sie
den Audiodeskriptionskanal bei ihren Geraeten ausschalten konnten. So
entschloss sich der zustaendige Techniker nach 40 Minuten, die
Audiodeskription einfach vom Sender her abzuschalten. (Wer sich in der
Materie auskennt, weiss, dass die Geraete der Unterhaltungselektronik fuer
blinde Menschen immer schwerer zu bedienen sind. Waehrend man also davon
ausgeht, dass blinde Menschen wissen, wie sie den Kanal finden, traut man das
Sehenden, fuer die die Bedienung der Geraete leichter ist, also nicht zu,
aehnliches zu tun). Sollen wir nun darauf hoffen, dass es bei der Ausstrahlung
von "Jenseits der Stille" beim BR keine Protestanrufe gibt, so dass wir den
Film in seiner Gaenze geniessen koennen?

2. Interessant ist auch, dass man uns auf den Bayerischen Rundfunk
vertroestet. Dieser Sender hat sich in vorbildlicher Weise den Beduerfnissen
seiner blinden Fernsehzuschauer angenommen und aus eigenen Mitteln Gelder
zur Foerderung der Audiodeskription bereitgestellt. Wir warten noch darauf,
dass die anderen ARD-Anstalten seinem Beispiel folgen. Ihr Brief liefert
Nahrung fuer meinen Verdacht, dass der BR hier eine Feigenblattfunktion
uebernehmen soll, dass also die anderen ARD-Anstalten denken: Wir haben ja den
Bayerischen Rundfunk, der kann sich ja um die Sache kuemmern. - Das ist kein
Vorwurf an den BR, aber an die ARD als Ganzes.

3. Was tun die blinden Menschen, die nicht die Moeglichkeit haben, das
Bayerische Fernsehen zu empfangen? Sie sind wohl auch bei diesem "Kompromiss"
die Verlierer. Aber was braucht das die ARD zu kuemmern: Diese Menschen
gehoeren ja nicht zur Mehrheit, fuer die die ARD da ist.

4. Viele Menschen stehen im Berufsleben. Koennen Sie sich vorstellen, wie
zufriedenstellend es ist, wenn morgen im Kollegenkreis ueber diesen Film
diskutiert wird, und der/die blinde Kollege (Kollegin) sitzt dabei und denkt
oder sagt: "In ein Paar Monaten werde ich das vielleicht auch beurteilen
koennen?"

Ich bin zutiefst enttaeuscht ueber die Entscheidung der ARD, aber auch ueber
die Reaktion, die ich auf meinen Brief erhalten habe.

Falls Sie meinen ersten Brief bis zum Schluss gelesen haben, ist Ihnen
vielleicht der folgende Satz aufgefallen: "Ich bin eher bereit, Ihr Loblied
so aus dem Wald herausschallen zu
lassen, wie Sie es hineinrufen! " Das gilt selbstverstaendlich auch fuer Ihre
Reaktion auf meinen Brief.

Ich danke Ihnen fuer Ihre guten Wuensche fuer Weihnachten und das neue Jahr.
Sicher waere es schoen gewesen, wenn wir als Blinde Fernsehteilnehmer nicht
drei Tage vor dem "Fest der Liebe" von der ARD diesen Tritt verpasst bekommen
haetten. Auch ich wuensche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest und ein
erfolgreiches neues Jahr. Moege das neue Jahr Ihnen Glueck, Gesundheit, aber
auch neue Einsichten bringen, damit sie am Ende des Jahres 2000 entweder
einen solchen Standardbrief als Antwort auf eine ernsthafte Beschwerde
ueberhaupt nicht mehr schreiben oder doch - falls Ihr Arbeitgeber das von
Ihnen verlangt - wenigstens ein Bisschen Scham dabei empfinden.

Das wuenscht Ihnen


Norbert Mueller.

    -----Urspruengliche Nachricht-----
    Von: Zuschauerredaktion_bEi_das-erste.de <Zuschauerredaktion_bEi_das-erste.de>
    An: nmueller_bEi_stepnet.de <nmueller_bEi_stepnet.de>
    Datum: Dienstag, 21. Dezember 1999 14:04
    Betreff: AW: Skandaloese Entscheidung!


    Sehr geehrter Herr Mueller,

    vielen Dank fuer Ihre Mail und Ihr Interesse am ERSTEN.

    Es ist richtig, die ARD-Programmdirektion hat sich dazu entschieden, den
Film JENSEITS DER STILLE ohne Audiodeskription und damit in Stereo
auszustrahlen. Wir sind uns bewusst, dass dieser Beschluss eine
Kompromissloesung ist.

    Herr Hirschhaeuser von der zentralen Programmplanung des Bayerischen
Rundfunks nennt folgende Gruende fuer die Entscheidung:

    Der Film JENSEITS DER STILLE basiert in den wesentlichen Sequenzen auf
der Wirkung von Musik.
    Die Entwicklung des Maedchens Lara - sie spielt die zentrale Rolle im
Film - wird von der Musik entscheidend beeinflusst. Wuerde die Musik nicht in
stereo ausgestrahlt, wuerde auch der Spielfilm in der Urfassung veraendert.
Wir bitten um Verstaendnis, dass die Filmproduktion und die Regisseurin
Caroline Link aber eine unverfaelschte Ausstrahlung des Filmes im Fernsehen
garantieren moechten.

    Das ERSTE ist ein Vollprogramm, das moeglichst viele Zuschauerinteressen
ansprechen will. Haette man den Film mono gesendet, waere die Mehrheit der
Zuschauer um die Qualitaet "betrogen" worden. Eine zeitgleiche Stereo- und
Monoausstrahlung ist uns aus technischen Gruenden leider noch nicht moeglich.
Daher hat man sich zu dieser Kompromissloesung entschlossen.

    Die ARD moechte aber auch die Minderheiten nicht vergessen. Daher werden
wir diesen Spielfilm im Bayerischen Fernsehen im naechsten Jahr mit
Audiodeskription ausstrahlen.

    Wir hoffen, wir konnten die sendeplanerischen Hintergruende dieser
Entscheidung fuer Sie etwas verstaendlicher machen. Dennoch danken wir Ihnen
fuer Ihr Engagement und wuenschen Ihnen und Ihrer Familie ein frohes
Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr!

    Mit freundlichen Gruessen aus Muenchen

    Sabine Weis
    Zuschauerredaktion DAS ERSTE




    -----Urspruengliche Nachricht-----
    Von: Norbert Mueller [mailto:nmueller_bEi_stepnet.de]
    Gesendet am: Dienstag, 21. Dezember 1999 11:48
    An: zured_bEi_das-erste.de
    Betreff: Skandaloese Entscheidung!

    Sehr geehrte Damen und Herren,

    soeben habe ich erfahren, dass der Film "Jenseits der Stille" heute Abend
um
    20.15 Uhr bei der ARD nicht in seiner Hoerfilmfassung ausgestrahlt werden
    soll. Statt dessen wird der Film in Stereo gesendet.

    Es ist in der Tat eine unglueckliche - wenn auch voruebergehende - Loesung,
dass
    fuer die Audiodeskription der zweite Stereokanal genutzt werden muss. Es
ist
    mir auch klar, dass hier die Interessen der verschiedenen Gruppen von
    Fernsehzuschauern kollidieren koennen; dennoch bin ich der Ansicht, dass
hier
    von den Verantwortlichen der ARD eine gravierende Fehlentscheidung
getroffen
    werden sollte, die ich im freundlichsten Falle als "unueberlegt", aber
    ehrlicher als ruecksichtslos und kaltschnaeuzig empfinde!

    Ich will Ihnen das auch begruenden:

    1. Der Film "Jenseits der Stille" spricht eine Problematik an, die sich
in
    aehnlicher Weise auch fuer viele Blinde und hochgradig Sehbehinderte
Menschen
    stellt. Schon aus diesem Grunde hat unser Personenkreis an diesem Werk
ein
    besonderes Interesse.

    2. Wie mir Freunde berichtet haben, die den Film kennen, ist dieser Film
    ohne Audiodeskription fuer blinde Menschen absolut ungeeignet, weil ja
    wesentliche dialoge ohne Sprache ablaufen und uns somit nicht zugaenglich
    sind. Die Entscheidung, den Film ohne Audiodeskription zu senden, ist
also
    eine bewusste Ausgrenzung unseres Personenkreises.

    3. Sehende Menschen haben die Moeglichkeit, sich den Film in seiner
vollen
    Stereofassung im Kino anzusehen oder auf Videocassetten zu beschaffen.
Das
    Kino nuetzt uns in diesem Falle (s. 2.) aber nichts, und viele von uns
    besitzen keinen Videorecorder, so dass wir nicht einmal die
    Audiodeskriptionsfassung auf einer Videokassette nutzen koennten. - Ich
weise
    in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass es kaum Videorecorder gibt,
die
    fuer uns bedienbar sind.

    4. Als oeffentlich-rechtliche Einrichtung ist die ARD allen Zuschauern
    verpflichtet, nicht nur denen, die alle Sinne benutzen koennen. Wieder
einmal
    sind es Sinnesbehinderte, deren Interessen ausser Acht gelassen werden.

    5. Die Audiodeskriptionsfassung von "Jenseits der Stille" wurde vom
    Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund finanziert. Eigentlich
sollte es
    nicht erforderlich sein, dass eine Selbsthilfegruppe Gelder fuer ein
Angebot
    bereit stellt, das ins Aufgabengebiet Ihrer Sendeanstalten faellt. Um so
    empoerender ist es, wenn Sie sich dann noch entscheiden, unserem
    Personenkreis die aus unseren Mitteln finanzierte Fassung
vorzuenthalten.

    Schon die Art und Weise, wie von der ARD bezueglich des Sendetermins
    verfahren wurde, war mehr als aergerlich: Der Film wurde angekuendigt,
fiel
    wegen Fussball aus, sollte dann auf Ostern verschoben werden, tauchte
    ploetzlich doch im Programm dieser Woche auf, sollte in seiner
    Audiodeskriptionsfassung gesendet werden, das wurde kurzfristig
abgesagt -
    Wenn man bedenkt, dass es fuer uns ohnehin schwieriger ist als fuer sehende
    Menschen, aktuelle Programminformationen zu beschaffen, dann kann man
sich
    des Eindrucks nicht erwehren, dass man bei der ARD nur wenig bis
ueberhaupt
    nicht ueber unsere Beduerfnisse nachdenkt.

    Schreiben Sie mir jetzt keinen Brief, in dem sie "um Verstaendnis" fuer
Ihre
    Entscheidung bitten. Ich habe dieses Verstaendnis nicht und bin auch
nicht
    bereit, Verstaendnis dafuer aufzubringen, dass man unsere Interessen mit
Fuessen
    tritt. Ich bin eher bereit, Ihr Loblied so aus dem Wald herausschallen
zu
    lassen, wie Sie es hineinrufen!



    Norbert Mueller