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Text des Braillezeilen-Urteils



Hallo,

Hier der von mir gescannte Text des Urteils zu Braillezeilen fuer zuhause.

Mein Kollege Wolfgang Orians hat ihn vom Bundessozialgericht angefordert
und hat auch das gescannte Ergebnis bezueglich der Paragrafen ueberprueft.

Gruss
Guenter Hanke

Privat: guenter.hanke_bEi_inka.de
Beruf: g.hanke_bEi_audiodata.de


--- START DES ORIGINALTEXTES ----

BUNDESSOZIALGERICHT

Im Namen des Volkes

Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: B 3 KR 6/97 R




Klaeger und Revisionsklaeger,

Prozessbevollmaechtigte:

g e g e n
Barmer Ersatzkasse,
Untere Lichtenplatzer Strasse 100-102, 42289 Wuppertal,

Beklagte und Revisionsbeklagte,


Der 3.Senat des Bundessozialgerichts hat ohne muendliche Verhandlung am

16.  April 1998 durch den Vorsitzenden Richter Dr. L a d a g e ,

die Richter Dr.  U d s c h i n g und Dr. N a u j o k s sowie den

ehrenamtlichen Richter Dr.  D u f n e r und die ehrenamtliche

Richterin B r oe c k e r s

fuer  Recht erkannt:

Auf die Revision des Klaegers werden das Urteil des Sozialgerichtes 
Duisburg
vom 21. Maerz 1997 sowie der Bescheid vom 24. August 1994 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 1995 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, den Klaeger mit einer Braillezeile des
Typs "Info-Braille 44" zusaetzlich zu der bereits geleisteten Lese-
Sprech-Einrichtung zu versorgen.

Die Beklagte hat dem Klaeger die Kosten des Rechtsstreits zu
erstatten.


G r ue n d e

Der 1942 geborene und bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte
Klaeger ist blind.  Er lebt mit seiner nicht berufstaetigen Ehefrau
sowie drei schulpflichtigen Kindern zusammen und arbeitet als. Leiter
einer Einrichtung fuer die Behindertenintegration. An seinem
Arbeitsplatz hat er einen Computer mit einer sog Braillezeile zur
Verfuegung. Dabei handelt es sich um ein Zusatzdisplay, auf dem ein
vom Computer per Scanner eingelesener Text in vibrierenden
Blindenschriftzeichen wiedergegeben wird, die der Blinde ertasten
kann.  Die Kosten dafuer belaufen sich je nach Ausfuehrung,
insbesondere Breite, auf DM 16.000 (Info-Braille 44) bis DM 28.000
(Info-Braille 84).  Im August 1994 beantragte der Klaeger bei der
Beklagten die Kostenuebernahme fuer ein sog Lese-Sprechgeraet mit
Braillezeile zum privaten Gebrauch, das in einer beigefuegten
aerztlichen Bescheinigung als `nuetzlich` bezeichnet wurde. Die
Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 24. August 1994 und
Widerspruchsbescheid vom 10. Februar 1995).  Im Klageverfahren hat
sich die Beklagte bereit erklaert, die Kosten einer
behindertengerechten Aufruestung des privaten Personalcomputers (PC)
des Klaegers zum Lese-Sprechgeraet (mit Scanner, Sprachausgabe und
entsprechender Spezialsoftwalre) gemaess einem Kostenvoranschlag (DM
9.200.-) zu uebernehmen. Der Klaeger hat dieses Teilanerkenntnis der
Beklagten angenommen und mit der Klage nur noch die Kostenuebernahme
fuer die Braillezeile weiterverfolgt.  Durch Urteil vom 21. Maerz 1997
hat das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen. Es hat gemeint, mit
dem Lese-Sprechgeraet sei der Klaeger ausreichend versorgt. Es gebe
keinen Anspruch auf eine optimale, auf dem neuesten Stand der Technik
befindliche Hilfsmittelversorgung, die lediglich Komfortbeduerfnissen
diene.  Mit der Sprungrevision ruegt der Klaeger die Verletzung von
Paragraf 33 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fuenftes Buch (SGB V), da fuer ihn
auch die Braillezeile erforderlich und kein blosser Komfort sei. Die
bereits gelieferte PC-Aufruestung Zum Lese-Sprechgeraet mache
erhebliche Schwierigkeiten bei allen Texten, die nicht zeilenweise von
links nach rechts zu lesen, sondern in irgendeiner Weise unregelmaessig
gedruckt seien. Unmoeglich sei das Erfassen von Schriftstuecken, die
Tabellen, Zahlenreihen usw enthielten, wie z13 Kontoauszuege,
Formulare, Telefonrechnungen. Auch bei der Eingliederungshilfe nach dem
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) sei die Notwendigkeit einer Braillezeile
anerkannt worden.

Der Klaeger beantragt sinngemaess, das Urteil des Sozialgerichts
Duisburg vom 21. Maerz 1997 aufzuheben und die Beklagte unter
Abaenderung des Bescheides vom 24. August 1994 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 1995 zu verurteilen, die Kosten
einer Ausstattung seines Lese-Sprechgeraetes mit einer Braillezeile des
Typs Info-Braille 84", hilfsweise Info-Braille 44", zu uebernehmen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurueckzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne muendliche
Verhandlung einverstanden erklaert.

Die Revision des Klaegers ist begruendet. Der Klaeger hat Anspruch auf
die Versorgung mit einer Braillezeile des Typs Info-Braille 44".

Nach Paragraf 33 Abs 1 Satz 1 SGB V idF durch das Gesundheitsreformgesetz (GRG)
vom 20. Dezember 1988 (BGBl 1, 2477) haben Versicherte Anspruch auf
Versorgung mit Sehund Hoerhilfen, Koerperersatzstuecken, orthopaedischen
und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den
Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1.Alternative) oder eine
Behinderung auszugleichen (2.Alternative), soweit die Hilfsmittel nicht
als allgemeine Gebrauchsgegenstaende des taeglichen Lebens anzusehen oder
nach Paragraf 34 SGB V idF des Gesetzes vom 21. Dezember 1992 (BGBl 1, 2266)
ausgeschlossen sind.  Wie in allen anderen Bereichen der
Leistungsgewaehrung muessen auch Hilfsmittel ausreichend, zweckmaessig
und wirtschaftlich sein, und sie duerfen das Mass des Notwendigen
(Erforderlichen) nicht ueberschreiten; Leistungen, die nicht notwendig
oder unwirtschaftlich sind, koennen Versicherte nicht beanspruchen,
duerfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die KKn nicht
bewilligen (Paragraf 12 Abs 1 SGB V).

Die Braillezeile ist als auf den Gebrauch durch Blinde zugeschnittenes
Geraet weder ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand noch nach Paragraf 34 SGB V
ausgeschlossen. Der Verpflichtung des Versicherten zur Uebernahme der
anteiligen Kosten eines Gebrauchsgegenstandes ist dadurch Rechnung
getragen, dass der Klaeger bereits bei der Aufruestung seines PC zum Lese-
Sprechgeraet nur die Zusatzkosten geltend gemacht hat (vgl zum Ganzen BSG
SozR 3-2500 Paragraf 33 Nr 16 <Lese-Sprechgeraet>).

Die Braillezeile ist grundsaetzlich ein erforderliches Hilfsmittel zum
Ausgleich einer Behinderung iS der 2. Alternative des Paragraf 33 Abs 1 Satz 1
SGB V. Ob der Begriff der Sehhilfe in dieser Vorschrift nur Hilfsmittel
erfasst, die - wie zB eine Brille - das Restsehvermoegen verstaerken und
nicht auch solche, die - wie die Braillezeile - die Koerperfunktion
(teilweise) ersetzen, kann offenbleiben. Die Braillezeile ist jedenfalls
ein sonstiges Hilfsmittel, da der Hilfsmittelbegriff iS der 2.
Alternative als Ausgleich der Behinderung auch den ersetzenden Ausgleich
umfasst (BSG aa0 mwN). Unschaedlich ist auch, dass die Braillezeile nicht
unmittelbar am behinderten Koerperteil (Augen) ausgleichend `ansetzt`,
sondern den Ausgleich auf anderem Wege - ueber den Tastsinn der Finger -
bewirkt, weil dies nach der Rechtsprechung nur dann zum Ausschluss der
Hilfsmitteleigenschaft fuehrt, wenn der Ausgleich ausschliesslich oder
nahezu ausschliesslich auf beruflichem, gesellschaftlichem oder dem
Gebiet der Freizeitbetaetigung erfolgt (vgi zu einer elektrischen
Schreibmaschine bei einer Phoko.melie der oberen Gliedmassen: BSG SozR
2200 Paragraf 187 Nr 1 und zu einer Blindenschrift - Schreibmaschine: BSG SozR
2200 Paragraf 182b Nr 5), Soweit ein diese Gebiete uebergreifendes sog
Grundbeduerfnis betroffen ist, faellt auch der Ausgleich der Folgen der
Behinderung auf den genannten Gebieten in die Leistungspflicht der KKn
(BSG SozR 2200 Paragraf 182b Nr 10 <clos-o-mat>; BSG SozR 3-2500 Paragraf 33 Nr 16
<Lese-Sprechgeraet>; BSG SozR 3-2500 Paragraf 33 Nr 18
<Farberkennungsgeraet>; BSG SozR 3-2500 Paragraf 33 Nr 22 <Doppelter PC>). Die
Braillezeile kann keinem der genannten Gebiete allein zugeordnet werden.
Auch wenn sie vom Klaeger nur im haeuslichen Bereich benutzt werden soll,
kommt sie auch dort fuer Druckschriften mit Bezug auf jedes der genannten
Gebiete in Betracht. Das diese Gebiete uebergreifende Grundbeduerfnis des
Klaegers ist sein Beduerfnis auf (umfassende) Information. Davon ist auch
das SG ausgegangen. Es hat allerdings zu Unrecht angenommen, dass dieses
Beduerfnis bereits durch das Lese-Sprechgeraet in ausreichendem Masse
befriedigt werde.
Unter Fortfuehrung der bisherigen Rechtsprechung (BSG SozR 3-2500 Paragraf 33 Nr
16 <Lese-Sprechgeraet>) ist daran festzuhalten, dass das Grundbeduerfnis
auf Information in engem Zusammenhang mit dem Recht auf ein
selbstbestimmtes Leben einschliesslich der Schaffung eines eigenen
geistigen Freiraums und der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben steht.
Die Information ist fuer Persoenlichkeitsentfaltung und Allgemeinbildung
von elementarer Bedeutung. Informationsbedarf und -moeglichkeiten nehmen
in der modernen Gesellschaft staendig und in steigendem Masse zu, wobei
immer wieder neue qualitative Stufen erreicht werden (Beispiel:
Internet). Diesem Informationsbeduerfnis ist in einem umfassenden Sinne
Rechnung zu tragen, so dass die blosse Verweisung eines Blinden auf
Rundfunk und Audiotheken nicht zulaessig ist. Auch die Information im
persoenlichen Lebensbereich auf einfachster Stufe gehoert zu einem
selbstbestimmten Leben. Von daher kommt es nicht darauf an, ob der
Klaeger mit der Braillezeile auch weitergehende Informationen
qualifizierter Art erreichen will, wie etwa die Erschliessung von
Fachliteratur oder von Belletristik im allgemeinen, und ob ihm dies
bereits mit der Lese-Sprech-Einrichtung, wenn auch teilweise mit
Schwierigkeiten, ermoeglicht wird. Denn es geht auch um schlichte
Zeitungslektuere und die Kenntnisnahme von Telefonnummern,
Telefonrechnungen, Arzneibeipackzetteln, Formularen usw, die mit der
bereits vorhandenen Ausstattung praktisch nicht oder nur mit unzumutbarem
Aufwand, wohl aber durch die Braille-Zeile moeglich ist.  Nach dem
Rundschreiben des Bundesministers fuer Arbeit und Soziales vom 9. August
1994, BArbl 10/1994, 155, das die weitreichenden Erfahrungen der mit der
Versorgung der Kriegsopfer befassten Behoerden wiedergibt, ist mit einem
Lese-Sprechgeraet schon das Zeitunglesen sehr umstaendlich und nur mit
einer Hilfsperson moeglich, da von dieser die einzelnen Artikel vorher
fuer das Lesegeraet passgerecht gefaltet oder ausgeschnitten werden
muessen; ferner ist das Lesen von Arzneibeipackzetteln, Kontoauszuegen 
oder Telefonbuechern nicht oder nur beschraenkt moeglich, auch koennen 
die Geraete spezielle Druckarten - wie Vielfarbdruck, Inversdruck oder 
Grossdruck - nur schlecht oder gar nicht verarbeiten. Umgekehrt ist mit 
der Braillezeile das "Lesen" jedes beliebigen gedruckten oder maschinen-
schriftlichen Textes moeglich (z.B. Briefe, Kontoauszuege, 
Telefonrechnungen,
Formulare usw). Das Lesen der Tageszeitung ist zweifelsfrei elementarer 
Bestandteil des oben geschilderten Grundbeduerfnisses "Information".
Schon von daher ist die Versorgung mit einer Braillezeile, die dieses 
Beduerfnis ohne groessere Probleme befriedigen kann, geboten. 
Aber auch die selbstaendige Erfassung von alltaeglichen Schriftstuecken 
wie Rechnungen, Kontoauszuegen, Prospekten gehoert zu den Voraussetzungen,
um sich im heutigen Leben zurechtzufinden. 
Auf die Hilfe seiner Ehefrau kann der Klaeger nicht
verwiesen werden (BSG SozR 3-2500 | 33 Nr 18). Ebensowenig kann allein
der Kostenaufwand der Grund sein, ein als notwendig erkanntes
Hilfsmittel zu verweigern.  Der Klaeger konnte jedoch nur mit seinem
Hilfsbegehren hinsichtlich der Braillezeile des Typs "Info-Brailie 44",
die lediglich das Lesen von halben Zeilen ermoeglicht, obsiegen.  Dies
entspricht dem Gebot der Wirtschaftlichkeit. Denn der Klaeger benoetigt
die Zusatzausruestung seines PC in Einsatzbereichen, die weitgehend
durch eine "halbzeilige Braillezeile` bearbeitet werden koennen. Dies
gilt vor allem fuer das taegliche Zeitunglesen, bei dem die Verwendung
einer "halbzeiligen" Braillezeile dem Klaeger zumutbar ist. Die
Tatsache, dass die "halbzeilige Braillezeile` in anderen
Einsatzbereichen, die vom Klaeger seltener genutzt werden, im Vergleich
zum "vollzeiligen" Typ ein geringeres Mass an Benutzerfreundlichkeit
aufweist, kann einen Anspruch auf die aufwendigere Ausstattung nicht 
begruenden. Paragraf 33 SGB V vermittelt keinen Anspruch auf Versorgung mit 
einem optimalen Hilfsmitteltyp. Stehen fuer einen Behinderungsausgleich 
mehrere Geraetetypen zur Verfuegung, so beschraenkt sich die 
Leistungspflicht
der KK grundsaetzlich auf den preiswerteren Typ, soweit dieser
funktionell geeignet ist. Das Anerkennen eines Grundbeduerfnisses auf
umfassende Information bedeutet keine vollstaendig mit den
Moeglichkeiten des Gesunden gleichziehende Information des blinden
Versicherten; der Anspruch findet insbesondere seine Grenze dort, wo
eine nur geringfuegige Verbesserung eines auf breitem Feld anwendbaren
Hilfsmittels voellig ausser Verhaeltnis zur Belastung der
Versichertengemeinschaft geraten wuerde. Insoweit hat die Rechtsprechung
auf eine begruendbare Relation zwischen Kosten und Gebrauchsvorteil des
Hilfsmittels (BSG SozR 3-2500 Paragraf 33 Nr 4 <Bildschirmlesegeraet> mwN; BSG
SozR 3-2500 Paragraf 33 Nr 16 <Lese-Sprechgeraet>; BSG SozR 3-2500 Paragraf 33 Nr 18
<Farberkennungsgeraet>; BSG SozR 3-2500 Paragraf 33 Nr 20
<Luftreinigungsgeraet>), insbesondere den zeitlichen Umfang der
beabsichtigten Nutzung und die Bedeutung der jeweils erschliessbaren -
hier: zusaetzlich erschliessbaren Informationen (BSG SozR 3-2500 Paragraf 33 Nr
16 <Lese-Sprechgeraet>), abgestellt. Angesichts der erheblichen
Mehrkosten fuer ein "Info-Braille 84" gegenueber dem ebenfalls bereits
kostspieligen kleineren Geraet ist der darin liegende geringfuegige
Gebrauchsvorteil nicht von der Solidargemeinschaft zu tragen.

Die Kostenentscheidung folgt aus Paragraf 193 SGG.


---- ENDE DES TEXTES ----