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OPTACON heute



Hallo, zusammen,

meine Leidenschaft fuer das Altbackene tritt mehr und mehr zu Tage:
ich nutze - dann und wann - LaTex (Danke uebrigens, Wulff, fuer Deinen
LaTeX2e-Text, in den ich schon reingeguckt habe), und ich verwende
immer noch das OPTACON, und zwar beruflich wie auch privat.

Mit meiner Ausbildung war ich etwa fuenf Jahre spaeter dran als 
Eberhard (auch ihm herzlichen Dank; Du hast mir die Technik des OPTACON
so klar erlaeutert, dass selbst ich sie verstehe; in Heidelberg war
man mit uns nicht so geduldig, da hiess es "Arbeit, Arbeit, Arbeit!").
Ich nutzte das Geraet immer dann, wenn ich kurze Artikel lesen
sollte (3-10 Seiten).  Was mich an diesem Geraet so fasziniert, ist,
dass ich nun Formdetails der Sehenden "begreifen" kann.  Schraege
schrift ist wirklich schraeg.  Man spricht im uebertragenen Sinne von
"schraegen Voegeln", wenn jemand betruegt, und so ist fuer mich schraege
Schrift im uebertragenen Sinne schraeg, weil man es da viel schwerer
hat, die Buchstaben zu erkennen - auch bei Nutzung aller Trix.
Fette Schrift hoert man durch lautes Tuten und spuert sie durch
doppelt dicke Striche; das Lesen wird wiederum verlangsamt, aber - 
jedenfalls ist das bei mir so - nicht so stark wie beim Schraegdruck.
Unterstreichungen bemerkt man ohne Weiteres mit dem OPTACon, und in
begrenztem Umfang lassen sich auch Schrifttypen unterscheiden; man
kann Helvetica oder Arial leicht von Times new Roman oder Century
Schoolbook unterscheiden (die ersten beiden haben keine Serifen, die
letzten beiden verfuegen ueber sie).

Doch mit dem OPTACON kann man noch mehr: man kann naemlich sogar
eifache - ich wiederhole allerdings das Wort _einfache_ Graphiken und
geometrische Figuren damit ertasten und nicht zu komplexe Flussdia-
gramme damit abtasten.  Seitdem weiss ich viel besser als bisher, was
der Sehende erfaehrt, und ich habe sogar die Moeglichkeit, meine
eigenen Stil- und Abbildungspraeferenze auszubilden, die fuer 
Sehende etwas eigenartig wirken, aber durchaus funktional sind.
Auch Formeln usw. kann man mit diesem Geraet erfassen - dann sollte
man aber ihren Inhalt schon vorher kennen.  Kurz: Das OPTACON ist
fuer mich eine wichtige Hilfe zur Integration und Emanzipation als
blinder Mensch in der graphischen "Welt der Sehenden".  Im Gegensatz
zu anderen Geraeten setze _ich_ die Grenzen des Erkannten.  Der
Scanner erkennt manche Zeichen, Schriften oder Abbildungen einfach
nicht, und sie bleiben mir vorbehalten.  Mit dem OPTACON erkenne ICH
viele Abbildungen nicht, weil sie MIR zu komplex sind; mancher Zeit-
genosse, der ein besseres raeumliches Vorstellungsvermoegen hat als
ich, mag mit manchem Bild noch was beginnen koennen, wo ich schon die
Waffen strecken musste.  Bemuehe ich mich, und nehme ich bei neuen
Arten von Graphiken zunaechst Sehende zu Hilfe, so erweitere ich
meine Grenzen und damit den Zugang zur graphischen Welt.

Natuerlich ist das OPTACON kein Heilsbringer!  Der groesste Teil der
graphischen Welt bleibt versiegelt, und was ich als stilistische
Eigenart entwickelt habe, das gilt bei den Sehenden als
"Marotte eines Primitiven".  Auch ist immer zu bedenken: mehr als
vier Seiten pro Stunde schafft man kaum, und das reicht fuer berufliches
Arbeiten halt meist nicht aus.  Schliesslich muss man viel ueben, um
ueberhaupt eine akzeptable Geschwindigkeit zu erreichen, und schon
wenige uebungslose Tage machen die Arbeit von Wochen zunichte.  Ich
dass das OPTACON heute als "out" gilt.  Es wird wohl fuer immer ein
Sonderweg zur graphischen Welt fuer nur wenige Blinde sein, und ich
bin ueberzeugt davon, dass Intelligenz oder Wahrnehmungsvermoegen
nur eine Nebenrolle spielen, wenn es um die Frage geht: wird jemand
das OPTACON nutzen oder nicht.  Der typische OPTACON-Leser - lasst es
Euch vom Fachpsychologen mit dem noetigen Enste sagen - ist ein
gruendlich bis verbissen arbeitender, fleissiger, skuriler, eigen-
williger und an Nebensaechlichkeiten interessierter Typ - na, wer
kann sich in dieser Beschreibung wiederfinden???

Herzliche Gruesse aus Magdeburg                            Arne Harder
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Dr. Arne Harder, Institut fuer Medizinische Psychologie, Medizinische
Fakultaet, Leipziger Strasse 44, D-39120 Magdeburg.
Tel. 0049-391-6117122 (Ists.); 0049-391-5411241 (priv.).
E-Mail: harder_bEi_medizin.uni-magdeburg.de
WWW: http://www.med.uni-magdeburg.de/~harder