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Re: Technik des Optacon



Hallo Technik-Interessierte!

Wolfgang Hubert schrieb gestern:

> in der Tat muss das Optacon (ich habe noch nie eines gesehen) ein ganz
> nuetzliches Geraet sein.

Fuer alle, die keine Konkrete Vorstellung von dem Geraet haben:
OPTACON = "OPtical to TActile CONverter" (also ein Umwandler von
sichtbarer in tastbare Information) wurde, wie Matthias erklaerte, von
einem amerikanischen Professor fuer seine blinde Tochter entwickelt und
dann von der Firma TSI in Serie produziert.

Das Grundgeraet ist ca. 15 mal 21 mal 6 cm gross und hat auf der
Vorderseite ein kleines "Fach", wo sich die vier Greiffinger der linken
Hand bequem hineinlegen lassen. Der Zeigefinger liegt dabei in einer
Mulde, deren Unterseite wie ein Sieb durchloechert ist. In jedem dieser 24
mal 6 Loecher ist ein kleiner Stift versenkt, der von einem
piezoelektrischen Biegeelement so angehoben werden kann, dass er etwas aus
dem Loch herausschaut. In groesserer Ausfuehrung werden das viele von der
Braillezeile her kennen. 

Ueber ein duennes, aber doch sehr vieladriges Kabel ist eine Handkamera
angeschlossen, deren Form an ein kleines Taschenmesser erinnern koennte. 
Auf der Unterseite hat sie zwei Laufrollen, damit sie leicht ueber das
abzutastende Papier gefuehrt werden kann. Aus einer Oeffnung tritt dabei
der Lichtschein eines Laempchens heraus und wird an den unbedruckten
Stellen vom Papier reflektiert, an den bedruckten dagegen absorbiert. Das
reflektierte Licht wird von einer Matrix von Fotozellen eingefangen, die
geometrisch genauso angeordnet sind wie die Stifte in der Mulde, aber
wesentlich enger beieinander stehend. Mit einem "Blick" kann die Kamera
etwa einen einzelnen Buchstaben erfassen. Fotosensoren aendern ihren
elektrischen Widerstand, wenn sie von Licht getroffen werden, also kann
die Elektronik feststellen, welche Sensoren sich gerade ueber weissem
(reflektierendem) bzw. ueber schwarzem (absorbierendem) Untergrund
befinden. Jeder Lichtsensor wird jetzt auf den Stift abgebildet, der sich
an entsprechender Position in der Matrix befindet. Die Stifte, die zu den
unbeleuchteten Sensoren gehoeren, werden erregt (d.h. angehoben), waehrend
die uebrigen im Ruhezustand bleiben.

Schiebt man die Kamera z.B. von links nach rechts ueber einen gedruckten
senkrechten Strich, so kriegen zunaechst die Sensoren am rechten Rand der
Matrix kein reflektiertes Licht, und entsprechend reagieren die Stifte am
rechten Rand unter dem Zeigefinger. Waehrend der Bewegung erreichen aber
diese ersten Sensoren bald wieder das weisse Papier, waehrend die weiter
links liegenden ueber den Strich geraten und kein Licht mehr wahrnehmen.
Ganz entsprechend geben die Stifte am rechten Rand Ruhe, aber die weiter
links stehenden regen sich. Man hat somit das Gefuehl, als wuerde der
linke Zeigefinger ueber einen tastbaren senkrechten Strich gleiten, oder
besser noch, als wuerde ein solcher Strich von rechts nach links unter dem
Zeigefinger vorbeirutschen. Entsprechend geht es auch mit komplizierteren
Formen. Man bekommt zwar nur ein grob gerastertes Bild, aber die
Aufloesung reicht aus, um die Geometrie eines abgetasteten Schriftzeichens
zu erkennen.

Bewusst habe ich bisher die Vibration der Stifte verschwiegen, denn fuer
das Prinzip an sich ist sie nicht erforderlich (sei mir nicht boese,
Matthias). Der Erfinder hat aber schon bei den ersten Experimenten
gemerkt, dass starre Stifte (von der notwendigen Kleinheit) nicht so recht
wahrgenommen werden (das ist bei der Braillezeile anders, weil hier die
Stifte viel groesser sind und groesseren Abstand haben). Er kam daher auf
die Idee, die Dinger vibrieren zu lassen, also die Piezoelemente mit einer
Wechselspannung zu erregen. Sehende, die das Optacon zum erstenmal
ausprobieren, zucken oft erschreckt zurueck: "Oh, das kitzelt ja!" Aber
daran gewoehnt man sich eigentlich schnell. Die Vibration verursacht auch
jenes naeselnde Summen, das manchen Umstehenden auf die Nerven geht. Die
Frequenz betraegt ca. 230 Hz, d.h. man hoert ein kleines b (vgl.
Bienenschwarm auf einem bluehenden Baum).

Vor etlichen Jahren wurde das alte Modell vom "Optacon II" abgeloest, das
mit weniger Stiften (und Sensoren) arbeitet - ich glaube, es sind 20 mal
5. Behauptet wird, die Lesefaehigkeit werde dadurch nicht beeintraechtigt
(ich habe das alte Modell, das neue kenne ich nicht aus eigener
Anschauung). Optacon II besitzt jedoch eine Schnittstelle zum PC, und
mittels einer Software soll es moeglich sein, den Grafikbildschirm in
aehnlicher Weise abzutasten wie ein bedrucktes Blatt Papier. Dabei wird
allerdings keine Kamera bewegt, sondern die Software verschiebt den
dargestellten Bildschirmausschnitt.

Um es deutlich zu sagen: Der Optaconleser liest keine Blindenschrift
(Brailleschrift), sondern tastet genau die geometrischen Gebilde ab, die
der Sehende als seine Schriftzeichen erkennt. Man muss also Schwarzschrift
lernen, wenn man mit dem Optacon arbeiten will. Eine Uebersetzung in
Punktschrift fuehrt das in Frankreich entwickelte Delta-Lesegeraet durch,
aber das ist eine andere Geschichte. 

Richtig, das Ablesen des Bildschirms ging mit dem alten Optacon auch,
jedoch musste man da wirklich am Bildschirm herumfummeln, und es war ein
anderer Aufsatz noetig, denn die Kamera durfte hierfuer kein eigenes Licht
produzieren, sondern sollte das vom Bildschirm ausgestrahlte Licht
einfangen. Der Aufsatz war aber ziemlich teuer, weshalb ich auf ihn
verzichtet habe. 

Tatsaechlich hat man bei der Programmiererausbildung in Heidelberg auch
eine Zeitlang mit dem Optacon den Textbildschirm abgetastet, bis dann die
Braillezeile kam. Ich erinnere mich noch sehr gut an jene Pioniertage, als
Prof. Dinius zu mir ins Rechenzentrum kam und alles Moegliche wissen
wollte. Es war dann auch eine Weile im Gespraech, ob ich nicht als
Lehrkraft in Heidelberg einsteigen wollte. Meine Ausbildung passte jedoch
nicht zu der Zielrichtung Datenverarbeitungskaufmann/frau. Sei froh,
Matthias, sonst haette ich Euch nicht nur ungewollt, sondern sogar
absichtlich scheuchen koennen <G>.

Genug der Maerchenstunde! Viele Gruesse,
Eberhard