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Re: mathematikzeichen ASCII-Werte



Hallo Anne, hallo alle!
 
Einerseits Umzugspanik in unserem Laden hier und andererseits - das kommt
ja immer, wenn man es am wenigsten gebrauchen kann - einige Tage
Krankheit haben nun leider dazu gefuehrt, dass ich mit meiner Antwort zu
spaet komme. Vielleicht ist es aber trotzdem sinnvoll, zum Thema
Mathematikschrift noch ein paar Worte zu verlieren.
 
Wie Mario richtig bemerkte, umfasst der erweiterte ASCII-Zeichensatz
laengst nicht alle mathematischen Symbole, so dass eine Zuordnung zu
einzelnen Zeichen hoechstens eine Teilloesung darstellen koennte. Aber
was sonst? "Mnemotechnische Umschreibungen", sagt Mario, und dafuer habt
Ihr Euch ja nun auch entschieden. Nur bin ich mir nicht sicher, ob die
Bezeichnungen einerseits genormt und andererseits allgemein gelaeufig
sind. Hilfreich waeren im Zweifelsfalle einige kurze Erlaeuterungen.
Vielleicht waere es ratsam, die Begriffe einem gebraeuchlichen Standard
wie LaTeX zu entnehmen.
 
Hasan beklagt zurecht den einigermassen chaotischen Zustand, der in
Deutschland, aber erst recht international bezueglich der Darstellung
mathematischer Formeln in Punktschrift herrscht. Es mag fuer manche
Leser, die die Interna nicht so recht kennen, interessant sein, hierueber
ein bisschen was zu erfahren.
 
In Marburg ist schon zu Anfang unseres Jahrhunderts eine erste
"Internationale Mathematik- und Chemieschrift fuer Blinde" entwickelt und
veroeffentlicht worden. Die Lehrbuecher, die jahrzehntelang in der Blista
und anderen Schulen benutzt wurden (und teilweise noch heute aktuell
sind), haben sich an dieses System gehalten. Das Problem der Uebertragung
mathematischer Formeln in die damals durchweg benutzte Sechspunktschrift
ist weitaus schwieriger, als man es auf den ersten Blick einschaetzen
koennte, denn die Mathematikschrift der Sehenden umfasst nicht nur
weitaus mehr als die lumpigen 64 Symbole, die uns die Brailleschrift zur
Verfuegung stellt, sondern sie benutzt auch eine Reihe von
Schreibtechniken, die wir in der Punktschrift kaum sinnvoll nachbilden
koennen. Dazu gehoeren die Verwendung verschiedener Drucktypen,
Zeichengroessen, Abstaende zwischen den Symbolen und vor allem die
zweidimensionale Schreibweise (Indizes werden tief-, Exponenten
hochgestellt, Zaehler und Nenner eines Bruches werden ueber bzw. unter
den Bruchstrich geschrieben, Summations- oder Integrationsgrenzen stehen
unter und ueber den Operatorzeichen, Matrizen und Determinanten werden
als rechteckige Schemata wiedergegeben usw.). Wenn man bedenkt, dass die
traditionelle Punktschrift fuer Klein- und Grossbuchstaben dieselben
Zeichen verwendet und nicht einmal eigene Symbole fuer die in der
Mathematik nicht ganz unwichtigen Ziffern hat, kann man vielleicht
ermessen, was es fuer eine Leistung war, mit diesem Vehikel eine
Mathematikschrift zu entwickeln, die selbst gehobenen Anspruechen gerecht
wurde und lange Zeit erfolgreich eingesetzt werden konnte. Die Wiedergabe
von chemischen Formeln, elektronischen Schaltungen, Musiknoten,
Strickmustern usw. warf aehnliche Probleme auf, die alle in durchaus
brauchbarer Weise geloest wurden. Ein Uebriges hat man mit der Schaffung
einer Blindenkurzschrift getan, zu der es in der Normalschrift keine
Entsprechung gibt (Stenografie ist nochmal etwas anderes, die gibt es in
Schwarz- und in Punktschrift).
 
Diese Entwicklungen waren nur moeglich, weil man einerseits gelernt hat,
die 64 Braillezeichen "kontextabhaengig" zu interpretieren (der Leser muss
wissen, dass er es mit Kurzschrift, mit mathematischen Formeln, mit
Musiknoten usw. zu tun hat, und die Zeichen dementsprechend deuten), und
weil man andererseits den Zeichenvorrat kuenstlich vergroessert hat. Dazu
schreibt man fuer ein Symbol manchmal mehrere Schriftzeichen - was die
Sehenden z.B. mit "sch" ja auch tun -, und man hat die "Schluesselzeichen"
erfunden, etwa das Zahlenzeichen - #a fuer die Ziffer 1 - oder das
Grossschreibzeichen - $a fuer das grosse A. Hierher gehoert auch das
Schluesselzeichen 6 in 6s fuer sinus, 6c fuer cosinus usw.
 
Dass manche Schueler ueber die Kompliziertheit solcher Schriftsysteme
stoehnten, hat man eben in Kauf genommen, denn nach dem damals
vorherrschenden Pioniergeist hatte ein Blinder einfach
ueberdurchschnittlich zu sein, und wem das nicht passte, der war eben
selbst schuld, wenn er in der feindlichen Gesellschaft der Sehenden nichts
erreichte.
 
Inzwischen hat sich sehr vieles geaendert. Der Computer hat voellig neue
Anforderungen an jede Art von Blindenschrift gestellt, und auch das
gesellschaftliche Verstaendnis von Leistung und Leistungsfaehigkeit hat
sich gewandelt. Wie sollte man angemessen auf diese Veraenderungen
reagieren, und das auch noch in recht kurzer Zeit und natuerlich
einheitlich im ganzen Land oder gar in der ganzen Welt? Ich denke, jeder,
der hier vorschnell mit kritischen Bemerkungen bei der Hand ist, sollte
sich vergegenwaertigen, was fuer gewaltige Anforderungen da mit einem Male
vor den wenigen Leuten standen, die sich fuer eine sinnvolle
Weiterentwicklung der Blindenschriftsysteme verantwortlich fuehlten. Dass
da vieles Wuenschenswerte einfach nicht geleistet werden konnte, sollte
niemanden wundern.
 
Wie sieht es inzwischen mit "der Mathematikschrift" aus? Das Marburger
System wurde zweimal reformiert (an der zweiten Ueberarbeitung war ich
mit beteiligt), aber ihre wesentlichen Merkmale sind geblieben:
- Sie ist eine Sechspunktschrift;
- auf eindeutige Rueckuebersetzbarkeit wird groesster Wert gelegt
  (z.B. keine Klammern verwenden, wenn im Schwarzdruck keine stehen);
- die Codierung erfolgt moeglichst platzsparend.
Fuer Mathematikprofessoren, die Angst vor dem PC haben, duerfte sie immer
noch sehr attraktiv sein, wird aber den Erfordernissen am Computer nicht
gerecht. Ausserdem beklagen sich weniger ambitionierte Schueler (und
Lehrer) vielleicht zurecht ueber ihre schwere Erlernbarkeit.
 
Von Frau Dr. Waltraud Schweikhardt wurde die "Stuttgarter
Mathematikschrift fuer Blinde" (SMSB) entwickelt, in die vieles von den
Marburger Konstruktionsprinzipien eingeflossen ist, die sich aber primaer
an den Gegebenheiten des Computers orientiert. Sie basiert auf einer
Achtpunktschrift, hat also 256 Zeichen zur Verfuegung. Damit ist es nur
noch selten erforderlich, ein Symbol durch mehrere Punktschriftzeichen
darzustellen, aber ganz kommt man darum eben doch nicht herum. Es wurde
auch Software entwickelt, um alle 256 Zeichen auf der Tastatur eingeben
und auf dem Bildschirm fuer Sehende einigermassen aussagekraeftig
darzustellen. Die SMSB ist verschiedentlich bei der integrierten
Beschulung von blinden Kindern im Einsatz. Die Ausbaufaehigkeit dieser
Schrift ist allerdings im Gegensatz zum Marburger System sehr begrenzt.
Kritisiert wird auch die Notwendigkeit von Spezialsoftware und eben die
Verwendung von acht Punkten, fuer die es immer noch keine
Schreibmaschinen gibt, und die auch erfahrungsgemaess schwerer zu lesen ist.
 
In den siebziger Jahren wurde an der Uni Karlsruhe der Modellversuch
"Informatikstudium fuer Blinde" gestartet, wofuer ebenfalls eine
"ASCII-Mathematikschrift" (AMS) entwickelt wurde. Hier wird - im Sinne
von Mario - viel mit mnemotechnischen Wortsymbolen gearbeitet, was es
insbesondere auch den sehenden Uebertragern erleichterte, die Schrift zu
lernen. Die AMS ist inzwischen auch an anderen Hochschulen im Gebrauch.
Sie stellt sicher das ausbaufaehigste System dar und ist, wie gesagt,
relativ leicht zu lernen. Fuer den praktischen Einsatz sehe ich
hauptsaechlich zwei Nachteile: Die Rueckuebersetzbarkeit ist nicht
garantiert (man verwendet haeufig Klammern, wo sie im Schwarzdruck nicht
erforderlich, aber eben auch nicht verboten sind), und der Platzbedarf
ist doch erheblich.
 
Schliesslich kam von Herrn Kalina aus Marburg vor einigen Jahren die Idee,
die Blinden sollten doch einfach die Symbolik von LaTeX als ihre
Mathematikschrift uebernehmen. Die Sehenden hatten naemlich mit der
Einfuehrung des Computers zunaechst auch das Problem, dass sie Formeln
nicht mehr in gewohnter Weise schreiben konnten, sondern mit 256
ASCII-Zeichen auskommen mussten. Nun wollte man den Computer aber auch
fuer anspruchsvollere Textgestaltung einsetzen, z.B. fuer den Buchdruck.
So ist das klassische Satzprogramm TeX mit seinen Makropaketen wie LaTeX
entstanden. Damit lassen sich u.a. mathematische Formeln druckfertig
aufbereiten, wobei die Eingabe noch in herkoemmlicher Weise geschieht,
also ueber die Tastatur und den (sogar auf 7 Bit eingeschraenkten)
ASCII-Zeichensatz. So wurden also auch viele Sehende gezwungen, eine
"primitive" und wenig ansprechende Mathematikschrift zu lernen, wenn sie
Formeln mit dem Computer darstellen wollten. LaTeX hat viele Jahre lang
als gehobener Standard unter Wissenschaftlern gegolten. Insofern ist der
Gedanke nicht abwegig, dieses System einfach fuer Blinde zu uebernehmen.
Sogar zur Beschraenkung auf sechs Punkte gibt es Vorschlaege, die ich
allerdings fuer sehr bedenklich halte. Die Hauptprobleme duerften jedoch
sein, dass LaTeX als Standard zunehmend an Bedeutung verliert, und dass
die Schreibweise mitunter sehr unbequem und klobig ist (fuer den
Doppelpfeil schreibt man longleftrightarrow - na, wenn das nicht long
ist!). Ich bin jedenfalls heilfroh, dass mir waehrend des Studiums ein
bequemeres Schriftsystem zur Verfuegung stand.
 
Gut, das war jetzt ein bisschen viel, aber hoffentlich nicht fuer alle
ganz und gar uninteressant. Wer Lust hat, kann sich ja nun Gedanken
darueber machen, wie wir zumindest im Lande zu einer einheitlichen, allen
Anspruechen gleichermassen gerecht werdenden Loesung kommen koennten.
Wenn wir das schaffen, lassen sich vielleicht auch die Auslaender von
unserem neuen System begeistern, denn dass die vielfach ihre eigenen
Sueppchen kochen - jeder natuerlich das absolut beste -, das ist fast
nicht anders zu erwarten.
 
Viele Gruesse
Eberhard