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Unfall eines Blinden



Hallo Fblinu,

D. Friedebold hat den anliegenden Text im Blindnet veroeffentlicht. Er  
wirft verschiedene Fragen auf, so dass er hier zusaetzlich auch noch ver-
oeffentlicht werden sollte. Ich hoffe, dass D. Friedebold nichts dagegen
hat.

Aus Mitteilungen der Rechtsabteilung (RA) des DSBV 10/98

Betr.: Urteil des OLG Koeln vom 4.3.1998 - 17 U 100/97 -
       "Schiffstreppen-Fall"<

Sehr geehrte Damen und Herren,

es ging um folgenden Fall: Der Klaeger, ein Blinder, hatte eine
mehrtaegige Reise auf einem Rheindampfer unternommen und war dabei
eine Treppe hinunter gefallen. Er verlangte von dem
Schiffahrtsunternehmen Schadensersatz und Schmerzensgeld. Zu dem
Unfall kam es, wie es in der Tatbestandsschilderung des
erstinstanzlichen Urteils des Landgerichts Koeln heisst: "als er
auf dem Weg zur Toilette auf dem Gang kurz aus dem Gleichgewicht
kam und zwar genau an der Stelle, an der rechts von ihm eine
Treppe von diesem Gang nach unten fuehrte. Der Klaeger musste diese
Treppe zwar nicht benutzen, weil ihn sein Weg weiter den Gang
entlang gefuehrt haette; er wusste aber, dass sich hier eine Treppe
befindet und versuchte, an dem von ihm aus rechten Handlauf
dieser Treppe Halt zu finden. Hierbei griff er jedoch ins Leere
und stuerzte diese Treppe hinunter." Das Landgericht gab der Klage
dem Grunde nach in vollem Umfang statt und begruendete sein
diesbezuegliches Teilurteil im wesentlichen wie folgt: "Die
Tatsache, dass diese Treppe nicht auf beiden Seiten von oben
beginnend mit einem Handlauf versehen ist, stellt eine objektive
Verletzung der der Beklagten als Betreiberin des Schiffes
obliegenden Verkehrssicherungsverpflichtung dar.(...) Ein
Mitverschulden an der Schadensverursachung muss der Klaeger sich
hier nicht anrechnen lassen. Ein solches liegt insbesondere nicht
darin, dass er als Blinder eine Schiffsreise unternommen hat. Zum
einen hat die Zeugin E. glaubhaft bekundet, dass er sich aufgrund
langjaehriger Erfahrungen mit Schiffsreisen auf Schiffen
selbstaendig und ohne Hilfe von Begleitpersonen bewegen kann.
Hierauf kommt es aber schon deshalb gar nicht an, da der Hergang
des Unfalls gar nicht zwingend auf der Tatsache beruht, dass der
Klaeger blind ist. Auch ein Sehender haette bei dem Griff nach dem
Handlauf ins Leere gegriffen und waere u.U. die Treppe
hinuntergestuerzt."
Gegen dieses Urteil legte das beklagte Schiffahrtsunternehmen
Berufung beim Oberlandesgericht Koeln ein und begruendete das
Rechtsmittel damit, dass der angeblich zu kurze Handlauf an der
Treppe bei der sicherheitstechnischen Pruefung des Schiffes nicht
beanstandet worden sei. Insbesondere aber diene der Handlauf
lediglich den Personen, die die Treppe benutzen, und nicht denen,
die sich oberhalb der Treppe beim Fallen einen Halt suchen. Eine
Verantwortung des Beklagten sei deshalb nicht gegeben.
Das Merkwuerdige: Das OLG machte sich einerseits den Vortrag des
Beklagten zu eigen, hielt jedoch andererseits weiterhin an einem
Verschulden des Beklagten fest - ohne dieses Verschulden zu
begruenden. Es minderte jedoch den anzunehmenden Grad des
Verschuldens aufgrund eines nach Ansicht des Gerichts
vorliegenden Mitverschuldens des Klaegers um 50 %.
Wie das Gericht dieses Mitverschulden des Blinden begruendet, ist
nach meiner Meinung geradezu skandaloes. Die Begruendung sei hier
im vollen Wortlaut wiedergegeben:
"Den Klaeger trifft ein erhebliches Mitverschulden, da er sich auf
dem Gang zur Herrentoilette nicht der Hilfe einer Begleitperson
bediente. Da er nach eigenen Angaben nur kurz und leicht aus dem
Gleichgewicht geriet, haette eine geeignete Begleitperson ihn
auffangen und ihn somit am Sturz hindern koennen. Die
Inanspruchnahme einer Begleitperson war dem Klaeger auch im
Interesse seiner eigenen Sicherheit zumutbar. Wie das vorliegende
Unfallgeschehen zeigt, bot der von dem Klaeger verwandte Langstock
keine ausreichende Sicherheit, denn dieser bewahrte den Klaeger
nicht davor, ueber die oberste Stufe des Treppenabgangs die Treppe
hinunter zu stuerzen und sich erheblich zu verletzen. Haette sich
der Beklagte einer Begleitperson bedient, so waere er nicht in den
unmittelbaren Bereich des Treppenabgangs gelangt. Dieser lag
nicht auf dem direkten Weg zur Herrentoilette, vielmehr fuehrte
der direkte Weg fuer den Klaeger nach dem Umschreiten der
Sesselgarnitur diagonal in gesichertem Abstand zum Treppenabgang
unmittelbar zur Toilettentuere. Diesen Weg haette auch ein sehender
Passagier gewaehlt und waere demnach nicht in die Gefahr geraten,
auch im Falle einer vergleichbaren Gleichgewichtsstoerung die
Treppe hinunter zu stuerzen. Der Unfall ist daher darauf
zurueckzufuehren, dass der Klaeger als Blinder den ueblicherweise
einzuschlagenden Weg zur Toilettentuere nicht sehen und auch mit
seinem Langstock nicht ertasten konnte. Gerade in diesen Faellenn
ist jedoch zum Selbstschutz des Blinden die Hilfe einer
Begleitperson angezeigt. Diese soll dem Blinden in fuer ihn nicht
erkennbaren Situationen die erforderliche Sicherheit geben. Dem
kann der Klaeger nicht mit Erfolg entgegenhalten, eine solche
Auflage wuerde ihn in seiner Beweglichkeit unangemessen
einschraenken. Die Behinderung des Klaegers erfordert von ihm im
eigenen Interesse alle erforderlichen Vorsichtsmassnahmen zu
treffen, soweit er nicht davon ausgehen kann, sich in einem
behindertengerecht ausgestatteten und abgesicherten Umfeld zu
befinden. Von solchen Bedingungen konnte der Klaeger im
vorliegenden Fall nicht ausgehen. Weder handelte es sich um eine
fuer Behinderte organisierte Reise, noch hat der Klaeger
vorgetragen, die Beklagte nehme fuer sich in Anspruch, auf diesem
Schiff ueber eine behindertengerechte Ausstattung zu verfuegen. Der
Klaeger kann den Verzicht auf eine Begleitperson nicht damit
entschuldigen, er sei seit Jahren regelmaessiger Gast auf den
Schiffen der Beklagten und kenne insbesondere auch das
Motorschiff M. genau. Wie der Unfallhergang zeigt, war ihm
jedenfalls die hier massgebliche Oertlichkeit nicht ausreichend
bekannt, sonst haette er einen anderen Weg gewaehlt oder aber
anstelle nach dem im oberen Bereich fehlenden Handlauf nach der
unmittelbar daneben befindlichen Bruestung des anschliessenden
Treppenabsatzes gegriffen."

Kommentar: Das OLG sieht die Dinge grundsaetzlich anders als das
erstinstanzliche LG. War das LG noch der Ansicht, der Unfall waere
so auch einem Sehenden passiert, meint das OLG, dass es nicht so
weit gekommen waere, wenn der Klaeger nicht blind gewesen waere.
Ist er deswegen als Blinder fuer den Unfall verantwortlich? Hier
kam es zu dem schweren Sturz, weil der Klaeger ausgerechnet dort
sein Gleichgewicht verloren hatte, wo er keinen Halt finden
konnte und wo sich der Schlund einer hinabfuehrenden Treppe
oeffnete. War dies sein Verschulden, oder war dies bloss Zufall
oder hoehere Gewalt?
Das Verschulden laesst sich nicht allein aus dem (hypothetischen)
Kausalverlauf herleiten. Verschulden liegt vor, wenn jemand etwas
tut und unterlaesst, was er nicht haette tun oder unterlassen
duerfen. Das OLG wirft dem Klaeger vor: Du haettest auf so einem
Schiff als Blinder nur mit einer Begleitperson gehen duerfen. Das
LG meint: Der Klaeger war so mobil, dass er auf dem Schiff ohne
Begleitperson gehen konnte und durfte. Wer nun Recht hat, das OLG
oder das LG, moechte ich jetzt nicht pauschal entscheiden. Es
kommt auf den Einzelfall, auf die individuellen Faehigkeiten des
Blinden an. Aber gerade diese Einzelheiten prueft das OLG nicht,
sondern fordert mehr oder weniger pauschal eine Begleitpflicht
fuer Blinde. Man koennte es auch einen "Leinenzwang" nennen, denn
der Blinde soll ueberall da, wo er sich nicht in einer Art
Schonraum befindet, von einem Begleiter gewissermassen an die
Leine genommen werden. Dadurch, so meint das OLG, werde der
Blinde in seiner Beweglichkeit nicht unangemessen eingeschraenkt.
Da kann man entschieden anderer Meinung sein. Sodann meint das
OLG einen Vorwurf daraus herleiten zu koennen, dass der Blinde
nicht den direkten, diagonalen Weg zur Toilette genommen habe,
der ungefaehrlich gewesen waere. Auch Blinde duerfen also nur den
"ueblicherweise einzuschlagenden Weg" nehmen. Dieser Vorwurf ist,
so meine ich, im gegebenen Zusammenhang voellig absurd. Der Blinde
befand sich, als er das Gleichgewicht verlor, an einer Stelle, an
der sich jeder Passagier aufhalten durfte und auch
"ueblicherweise" entlang ging, zumindest wenn er die Treppe
hinunter gehen wollte. Ob der Betreffende auf dem Weg zur
Toilette war oder nur auf einem Spaziergang, durfte hier doch gar
keine Rolle spielen! Zur Verdeutlichung und Abgrenzung moechte ich
von einen Fall berichten, der mir vor nicht langer Zeit bekannt
geworden ist: Ein Blinder steigt aus dem Zug, geht aber nicht wie
die anderen Fahrgaeste durch die Bahnhofshalle zum Taxi, sondern
versucht eine Abkuerzung durch das Gelaende neben dem Bahnhof. Dort
faellt er von einer Rampe. In diesem Fall wurden die vom Blinden
geltend gemachten Schadensersatzansprueche m.E. zu Recht
abgelehnt, denn der Unfall geht darauf zurueck, dass der Blinde
einen Weg nahm, den niemand, schon gar nicht ein Blinder,
vernuenftigerweise genommen haette. Die Bahn war auch nicht
verpflichtet, diese abgelegene Rampe mit einem Gelaender zu
versehen. Ganz anders sieht es aber in unserem
Schiffstreppen-Fall aus: Der Blinde bewegte sich dort, wo sich
alle anderen Passagiere aufhalten konnten und durften. Und - die
Frage sei erlaubt - waere es hier, an dieser gefaehrlichen Treppe,
nicht angebracht gewesen, Sicherheitsschranken anzubringen? Zumal
auf einem schwankenden Schiff (auch auf dem Rhein gibt es
Wellen), wo immer irgend jemand das Gleichgewicht verlieren
koennte. Und dies waere nicht einmal eine spezifisch
"behindertengerechte Ausruestung" gewesen. Das OLG Koeln erwartet
zu Recht vom Behinderten, fuer moegliche Gefahren
Vorsichtsmassnahmen zu treffen. Bedenklich ist jedoch, wie hoch
diese Erwartungen gesteckt werden, wenn andererseits vom
Schiffahrtsunternehmen nicht - jedenfalls nicht ausdruecklich -
verlangt wird, auf moegliche Gefahrenzonen zu achten und
Gegenmassnahmen zu treffen.
Der Klaeger verfolgt sein Recht weiter mit der
Verfassungsbeschwerde. Er macht geltend, dass die vom OLG Koeln
vorgenommene Wertung, wonach der Unfall nur einem nicht von
einem Sehenden begleiteten Blinden passieren konnte, unzutreffend
sei. Auch ein Sehender, so meint er, waere hier gestuerzt. Von
diesem aber werde nicht erwartet, dass er nur zu zweit gehe. Also
werde er allein "wegen seiner Behinderung" unsachgemaess
benachteiligt. Ich kann mir vorstellen, dass das
Bundesverfassungsgericht, den Fall zwecks weiterer Sachaufklaerung
an das OLG Koeln zurueckverweist. Das Problem: Eigentlich muesste
erst das Verschulden der Schiffahrtsgesellschaft genauer
festgestellt werden. Gelingt dies nicht, geht dies zu Lasten des
Klaegers.
Zum Schluss moechte ich noch darauf hinweisen, dass bei diesem
Koelner Urteil nicht derselbe Senat entschieden hat, der das
umstrittetene "Maulkorb-Urteil" gefaellt hat.

P.S.
In einer getrennten Mail werde in Kuerze noch einmal darauf zurueckkommen.
mfG
Gerhard


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