Re: Jahr 2000

[Sven Türpe <bubble_bEi_aix550.informatik.uni-leipzig.de>]

Karl-Heinz Weiss schrieb:

> Kuerzlich konnte man auch lesen, dass sogar die Kuehlkreislaeufe in  
> Kernkraftwerken ein Jahr 2000 Problem haetten. Als Praktiker, der sich mit  
> Steuern, Messen und Regeln auskennt frage ich mich, wieso die Steuerung  
> eines Kuehlkreislaufs datumsabhaengig sein soll. (...)

Schoen, dass ich mit meiner Skepsis nicht allein dastehe. Sicher gibt es
Jahr-2000-Probleme. Das ist mindestens seit Anfang der 90er Jahre in der
Fachwelt bekannt - ich jedenfalls habe schon zu Beginn meines Studiums
davon gehoert, wenn mich die Erinnerung nicht taeuscht. Bis vor kurzem
dachte man dabei hauptsaechlich an ueber Jahre gewachsene EDV-Strukturen
aus der Steinzeit, Grossrechner von Banken und Versicherungen zum Beispiel,
deren Software seit den 60er oder 70er Jahren weiterentwickelt, aber nie
ausgetauscht wurde. Fuer solche Systeme kann jeder, der ein wenig Program-
miererfahrung besitzt, das Problem nachvollziehen. Speicherplatz war
frueher wirklich knapp, weshalb Jahreszahlen in der Tat zweistellig ge-
speichert wurden, zumal das Ende des Jahrhunderts noch weit entfernt
war.

Soweit so gut. Die Banken und Versicherungen und noch ein paar andere
Dinosaurierzuechter haben ein Problem und sie arbeiten daran, es zu
beheben. Das muessen sie auch, denn sie sind abhaengig von ihrer Daten-
verarbeitung, so abhaengig, dass sie Notfallrechenzentren bereithalten,
die im Falle eines Brandes oder einer anderen Katastrophe binnen Stunden
den Betrieb aufnehmen koennen. 

Daneben gibt es eine Reihe kleinerer Probleme. Das eine oder andere PC-
Programm hat Datumsprobleme, bei aelteren Rechnern kommt BIOS mit Daten
nach dem 31.12.1999 nicht zurecht. Davon geht die Welt nicht unter und
vermutlich auch keine Firma.

Doch in juengerer Zeit macht sich irrationale Panik breit. Man kann das
zum Beispiel im WWW beobachten, etwa unter http://www.y2kwomen.com/ und
unter http://www.rhein-neckar.de/~super/jahr2000/index.html (das erste
in englischer, das zweite in deutscher Sprache). Da wird allen Ernstes
der Untergang der Welt, wie wir sie kennen, prophezeiht. Man moege sich
fuer den schlimmsten Fall ruesten und Lebensmittelvorraete fuer ein
halbes Jahr anlegen, heisst es da zum Beispiel. 

Wie solche Hysterie zustandekommt, ist mir noch nicht klar, zumal ich
mich erst seit kurzer Zeit damit beschaeftige. Aufgefallen ist mir jedoch
bereits, dass eine ganze Reihe konstruierter (phantasierter?) Szenarien
im Umlauf ist, aber nur wenig handfeste Information. Damit lassen sich
Leute aengstigen - auf dass man ihnen fuer viel Geld Jahr-2000-Beratung
verkaufen kann.

> Solche Regler pflegen  
> naemlich ausschliesslich auf Temperaturen, Druecke, Durchflussmengen und  
> vielleicht sonst noch ein paar physikalische Groessen zu reagieren. Dass   
> bescheuerte Ingenieure imstande sind ein "Verfallsdatum" in so einen  
> Regler einzubauen, ist jenseits meines Vorstellungsvermoegens.

Als Informatikstudent, der gerade an seiner Diplomarbeit schreibt und
doch schon so einige Zeilen Quelltext geschrieben oder bearbeitet hat,
kann ich mir das auch nicht vorstellen. Auf diesbezuegliche Zweifel
bekommt man von den Jahr-2000-Verdienern zwei Standardantworten. Zum
einen ist da die ominoese Ueberwachung von Wartungsintervallen, bei
der eine Ueberschreitung des naechsten Wartungstermins das Geraet oder
die Anlage ausser Betrieb setzt. Ich weiss nicht, ob es sowas gibt. Ich
weiss aber, dass dort, wo die Konstrukteure auch nur einen Moment nach-
gedacht haben, der Ablauf eines Wartungsintervalls lediglich angezeigt
wird. Man stelle sich nur mal vor, ein Auto hielte mitten auf der
Autobahn oder gar weitab von jeder Zivilisation ploetzlich an, weil
es in die Werkstatt moechte. Man koennte damit dann nicht mal mehr zur
Werkstatt fahren. Das tun die Autos natuerlich nicht. Statt dessen 
leuchtet eine Lampe am Armaturenbrett auf.

Die zweite Standardantwort ist die, dass das jeweilige Gesamtsystem
Jahr-2000-faehig sei muesse. Zum Gesamtsystem zaehlt man im Zweifels-
fall auch schon mal die Stromversorgung und das Essen fuer die Mann-
schaft dazu. Wenn also die Betriebskantine nicht 2000-faehig ist ...
you got the point.

Mit diesen beiden Antworten kann man beliebig viele 2000-Probleme kon-
struieren - und den angeblich davon Betroffenen beliebig viel Geld
abknoepfen. Sachlichkeit ist da eher unerwuenscht. Wer mit Gerede vom
grossen "Computer-Crash" den Eindruck erweckt, saemtliches Silizium
wuerde am 1.1.2000 seine Arbeit einstellen, kann sich mehr Kunden
fuer sein 2000-Consulting angeln.

Gruss
	Sven

-- 
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