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Re: Psychologie des Lesens
- Subject: Re: Psychologie des Lesens
- From: Eberhard Hahn <eberhard.hahn_bEi_zdv.uni-tuebingen.de>
- Date: Thu, 20 May 1999 09:34:38 +0200 (MEST)
Hallo Arne, hallo "Schriftgelehrte"!
On Wed, 19 May 1999, Arne Harder wrote:
> Der Trick mit den Ankuendigungszeichen ist uebrigens fast
> "praehistorisch". Die alten Aegypter verwendeten ihn aehnlich.
Vielen Dank fuer die sehr interessanten Ausfuehrungen zu diesem Thema!
Dass uns manche Sehenden wegen dieser Technik zu Unrecht belaecheln
("Weltfremde Spielerei unter Behinderten", wie man das in einem
Zeitschriftenartikel einmal lesen konnte), ist mir ja schon lange klar.
Dass aber bereits die alten Aegypter diese Methode praktizierten und sie
zudem als besonders genial empfanden, war mir neu. Was man in FBLINU doch
alles erfahren kann!
In einem anderen Punkt habe ich gegen Deine Ausfuehrungen jedoch gewisse
Vorbehalte:
> Andreas, Du meinst, bei acht Punkten waere mit der vernuenftigen
> Lesbarkeiit durch den Tastsinn Schluss! Falsch! Empirische Ergebnisse
> von Foulke un Warm (1978) haben gezeigt, dass Blinde und Sehende
> unter Lichtabschluss gut mit 3x3 und 4x4Matrizen zurechtkommen.
Hier waere in der Tat genauer zu pruefen, was unter "gut zurechtkommen" zu
verstehen ist. Als Louis Braille zur Schule ging, war ja bereits eine
"Blindenschrift" im Gebrauch, die zudem den Vorteil hatte, dass sie auch
von Sehenden gelesen werden konnte. Es handelte sich einfach um eine
Reliefdarstellung der normalen Schwarzschriftbuchstaben (soviel ich weiss,
hat man sich auf die grossen Druckbuchstaben beschraenkt). Ein
schwerwiegender Nachteil dieser Schrift war, dass sie nur "gedruckt" (also
mit Spezialvorrichtungen gepraegt), aber nicht "geschrieben" werden
konnte. Diesen Nachteil beseitigte eine fuer das Militaer entwickelte
Stachelschrift (den Namen des Erfinders habe ich vergessen). Hier wurden
die Schwarzschriftbuchstaben in einer 3x4-Punktmatrix "dargestellt", also
halt approximiert, so gut es eben ging. Fuer so eine Schrift konnten
Schreibgeraete hergestellt werden (aehnlich wie unsere
Punktschrifttafeln). Somit waere das Blindenschriftproblem doch eigentlich
geloest gewesen, auch wenn sich die Stachelschrift unter den Soldaten (sie
sollten Botschaften in der Dunkelheit lesen koennen) nicht durchsetzte.
Louis Braille griff auch begeistert die Idee mit den Punkten auf, entwarf
aber trotzdem ein voellig neues Schriftsystem und nahm den betraechtlichen
Nachteil in Kauf, dass seine Schrift von den Sehenden nicht a priori
verstanden wurde. Haette er, der doch das Ertasten der
Schwarzschriftbuchstaben als Kind gelernt hatte, diesen unbequemen und
folgenreichen Schritt wirklich getan, wenn er mit den 3x4-Matrizen "gut
zurechtgekommen" waere?
> Das heisst: sie koennen mit bis zu 16 Punkten (2^16 =65536 Kombinationen)
> zurechtkommen.
Auch da moechte ich vor einem fatalen Trugschluss warnen: Wer mir
erzaehlt, er koenne saemtliche 65536 denkbare Kombinationen treffsicher
und in angemessen kurzer Zeit unterscheiden, dem glaube ich schlicht und
einfach nicht. Aber eben deshalb sollten wir aeusserst vorsichtig sein
beim Argumentieren mit so eindrucksvollen Zahlen. Wir sind auch dann keine
Wunderwesen, wenn uns manche Sehenden dafuer halten. Vielleicht gibt es
ja Leute unter uns, deren Wahrnehmungsfaehigkeit durch die gebraeuchlichen
Punktschriftarten nicht bis zum Anschlag ausgereizt wird. Lasst uns aber
auch an jene denken, die schon mit den lumpigen sechs Punkten und 64
Kombinationen ihre liebe Not haben und oft genug daran verzweifeln.
Viele Gruesse,
Eberhard